Ich sitze im Flugzeug. Mal wieder. Der Job hier in Afrika hält mich wirklich auf Trab. Nicht das ich Reisen nicht mag, im Gegenteil. Dennoch ist so ein Leben aus dem Koffer auf die Dauer durchaus auch etwas anstrengend. Mit der Zeit wird man Meister im abschätzen, wieviel Sachen man so braucht für einer Woche. Meine Frau packt für den Urlaub gefühlt immer das Doppelte von dem ein, was sie am Ende überhaupt benutzt. Just in case. Verstehe ich ja auch ein wenig. Ihr fehlt da einfach die Praxis. Daher lieber mehr, als zuwenig. In der ehemaligen DDR packte man die Koffer für die Bevölkerung in der Weise, dass sie grad mal zwei Tage von einer Woche abdeckten. Sozialistische Planwirtschaft.
Und genau in diese Planwirtschaft hinein wurde ich geboren. Eher ungeplant, wie man mir später berichtete. Ich war immer der „Kleine“ in der Familie und ein gefühltes Einzelkind. Mein Bruder, knapp sechs Jahre älter als ich, ist mit der Stadt irgendwie nie richtig warm geworden. So wuchs er größtenteils auf dem Land bei unseren Großeltern auf. Mir hat mein Kiez immer super gefallen als Kind. Berlin-Prenzlauer Berg. In den 80ern war es dort in meiner Erinnerung ziemlich grau. Die Fassaden der Häuser zierten häufig noch Einschusslöcher aus dem Krieg und von den Wänden auf den Hinterhöfen bröckelte der verbliebende Putz unaufhaltsam ab. Das ein oder andere Haus wurde sogar noch gesprengt in dieser Zeit, wenn es einfach zu sehr verfallen war. Ich kannte damals quasi jeden Hinterhof. Von der Dimitroff- bis zur Heinrich-Roller-Straße, sowie zwischen Prenzlauer Allee und Greifswalder Straße war mein Revier. Dort befand sich auch meine erste Schule. Ich musste nicht mal eine Straße überqueren, um von der Winsstraße zur Christburger zu laufen. Im Sommer wurde der Schulranzen zu Hause nur schnell in die Ecke gefeuert und ich verbrachte den restlichen Tag mit meinen Freunden bis zum Abendbrot draußen. „Kommste runter?“ „Klar, ick muss bloß noch den Müll schnell runter bringen, sonst meckern meine Alten wieder!“ Ohne Handy, ohne Uhr. Wenn die Kirchenglocken um kurz vor sechs abends erklangen, war dies das Zeichen nach Hause zu gehen. Die beste Zeit im Jahr. Im Winter legte sich oft eine Dunstglocke der verfeuerten Braunkohle über die Straßenzüge. Ofenheizung war damals noch weit verbreitet und bei Minusgraden blieb man auch als Kind dann lieber zu Hause. Aber bei Schnee wirkt selbst der graueste Bezirk idyllisch. Nach der Schule, oder am Wochenende ging es an diesen Tagen mit dem Schlitten zum Volkspark Friedrichshain. Die Todesbahn dort war berüchtigt.
Nach der Wende änderte sich zunächst nicht viel. Die Klassen wurden sogar noch etwas leerer als zuvor. Der goldene Westen lockte schon Ende der Achtziger viele Familien fort und so hatten wir nun teilweise nur noch 9 Kinder in meiner Klasse. Gestartet waren wir mit über 30. B-Klasse. Irgendwie waren wohl dort von Anfang an die Kinder der eher systemkritischen Familien einsortiert worden? Meine Eltern dachten nie an Flucht, trotz aller Umstände. Ich durfte sogar mitmachen bei den Pioniernachmittagen und habe wie alle anderen, fleißig Altstoffe gesammelt. Am Ende des Jahres wurde immer stolz ein Sieger gekürt. Mit der Wende kamen die Plastikflaschen und Tetrapacks und überschwemmten natürlich auch den Prenzlberg. Viel Schlimmer war aber die Situation mit der Hundescheiße. Der ganze Bezirk roch wie ein riesiges Hundeklo. Zu jedem Hausbesetzer in der Dunckerstraße, kamen gefühlt vier Hunde dazu. Zerbrochene Glasflaschen, Müll, Hundekot, Urin und Erbrochenes. Der Prenzlauer Berg Anfang der 90er, war eher nichts für Zartbesaitete. Irgendwann kamen die Schwaben und mit ihnen die Kehrwochen. Ich habe das nicht mehr voll mitbekommen, meine Eltern zogen 1998 nach Tempelhof. Nach einigen Wochen ganz allein in unserer alten Wohnung, musste auch ich schweren Herzens mit. Eine wirklich intensive Zeit war das, kurz vor der Jahrtausendwende in Berlin. Donnernde Bässe von Freitagabend bis Sonntagnachmittag. Die Technobewegung auf Ihrem absoluten Höhepunkt und ich mitten drin. Irgendwie habe ich zum Glück mein Abitur nebenbei gemeistert.
Und danach kam dann erstmal der Bruch. Bundeswehr. Im fernen Norden, zwischen Bad Bramstedt und Hamburg. Weit weg von den Clubs in Berlin. Morgenapell und MG36. Ein Kontrast wie er größer kaum sein konnte. Aber ich kann mich hervorragend anpassen. So wurde ich am Ende als bester Rekrut der Grundausbildung gefeiert und schob danach einen ruhigen Dienst in der Personalabteilung der Kaserne. Die Akten der Unteroffiziere lagen auf meinem Tisch und so wußte ich über die vielen verkorksten Lebensläufe Bescheid. Endstation Bundeswehr. Spätestens als mein Feldwebel stark schwankend beim Antreten in aller Frühe zum militärischen Gruß ausholte und fast stürzte war mir klar, studieren willst Du hier bei dem Verein mal besser nicht. Überhaupt. Wenn käme irgendwie nur Psyschologie als Fach in Frage. Aber jahrelang irgendwelche Nebenjobs machen und in einer WG hausen? Die IT-Branche begann zu boomem in dieser Zeit und so wurde ich Fachinformatiker. Verkürzte Ausbildung und eine Menge Geld auf dem Konto, so startete ich direkt ins Berufsleben. Während andere sich in den Semesterferien auf Vorlesungen vorbereiteten und als Kellner aushalfen, drehte ich mich im Urlaub auf den Kanaren nochmal auf der Sonnenliege um. Fernuni hat später nicht wirklich gut funktioniert und so stehen inzwischen drei abgebrochene Studiengänge zu Buche. Typisch Einzelkind. Was solls. Zum Kofferpacken reicht es immerhin.
30 Jahre Mauerfall feiern wir in diesem Jahr in Deutschland. Wie immer, melden sich bei solchen Gelegenheiten die sogenannten Verlierer dieser Wende besonders lautstark zu Wort. Mein Plan, mit 25 Jahren die erste Million auf dem Konto zu haben, ist gescheitert und die Euroumstellung war nicht allein daran schuld. Keine Ahnung wie ich darauf als Kind mal gekommen bin. Macht mich das zu einem Verlierer der Wende? Ohne die offenen Grenzen wäre es vielleicht nie dazu gekommen, dass ich überhaupt eine echte Berufswahl gehabt hätte. Geschweigedenn einen einzigen Euro auf meinem Konto.
In meinem alten Kiez ist nichts mehr so, wie ich es kenne. Alle Häuserlücken wurden mit modernen Apartmentkomplexen bebaut und wo früher Kotze klebte, malen Kinder mit Kreide auf den Asphalt. Die Eingangstüren der ehemaligen Mietskasernen bleiben heute verschlossen, jegliche Einblicke in die Hinterhöfe, werden einem dadurch verwehrt. Ich kenne niemanden mehr von damals, der hier irgendwo noch wohnt. Vielleicht wachsen jetzt sogar Bio-Erdbeeren dort, wo wir früher heimlich unsere erste Zigarette gepafft haben? Zumindest wird es nicht mehr so grau aussehen, hoffe ich mal.
Ich muss die Augen zusammenkneiffen, um auf die Wolken unter mir schauen zu können. Noch ein paar Stunden Flug bis Monrovia. Hier oben scheint immer die Sonne und der Himmel ist blau. Ich denke mich hätte es schlimmer treffen können mit meinem Beruf. Und so bleibt meine einzige Sorge im Moment, dass mein Koffer mit an Bord ist. Sonst war all die gute Planung völlig umsonst.
Ick meld ma!